Was ist e-Governance?
Unter e-Governance (Electronic Government) ist die Nutzung von Informations- und Kommunikationstechniken im Zusammenhang mit dem Regieren und Verwalten eines Staates zu verstehen. Dabei soll der Einsatz moderner IT-Techniken Verwaltungsabläufe vereinfachen und beschleunigen. Darüber hinaus soll es die Kommunikation der Behörden untereinander und mit den Bürgern erleichtern.
Estland hat 2000 mit dem schrittweisen Aufbau der für e-Governance notwendigen Strukturen begonnen. Zwar wurden in Deutschland 2013 ebenfalls die gesetzlichen Grundlagen für e-Governance geschaffen. Eine merkbare Umsetzung lässt jedoch noch auf sich warten. Warum ist das so bzw. was ist in Estland anders als in Deutschland?
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Basisinformationen zu Estland
Mit einer Größe von 45.228 Quadratkilometern nimmt › Estland flächenmäßig Platz 21 auf der Liste der 28 EU-Staaten ein. Hinsichtlich der Gesamtbevölkerung liegt es › mit 1,14 Millionen sogar nur an 25. Stelle. Im Vergleich dazu belegt Deutschland mit einer Größe von 357.022 Quadratkilometern und einer Einwohnerzahl von ca. 84 Millionen Platz 4 bzw. Platz 1.
Einerseits ist die geografische Lage Estlands nicht unbedingt optimal. Am Rande Europas zwischen der Ostsee und Russland gelegen, grenzt es im Süden an Lettland und der nördliche „Nachbar“ ist Finnland. Andererseits führte das Land u. a. aufgrund seiner problematischen Vergangenheit bisher eher ein Schattendasein.
Nachdem Estland 1944 in die (damalige) Sowjetunion eingegliedert wurde, erlangte das Land erst im März 1990 (wieder) seine Unabhängigkeit. Heute ist Estland nicht nur Mitglied der EU, sondern auch der NATO, OECD, WTO und gehört zur Eurozone sowie zu den Schengener Staaten.
Wirtschaftliche Entwicklung
Abgesehen von Holz verfügt Estland über keine nennenswerten Rohstoffe. Deshalb war nur die Möbel- und Papierindustrie von gewisser Bedeutung. Inzwischen ist ein Wachstum bei der Elektroindustrie sowie dem Maschinen- und Fahrzeugteilebau zu verzeichnen, aber trotzdem suchte das Land nach weiteren modernen wirtschaftlichen Möglichkeiten.
Dabei sieht die Regierung gerade in der geringen Größe des Landes einen Vorteil, effektive Lösungen zu finden. Innerhalb nur weniger Jahrzehnte entwickelte sich Estland zu einem Standort, an dem neue Lösungen ihren Anfang nehmen. Nicht zuletzt e-Governance trägt dazu bei, dass Estland inzwischen zur Weltspitze hinsichtlich der Anzahl der Start-ups pro Kopf zählt.
Bei uns geht alles digitalisch – außer heiraten!
Quelle: Eigenes Interview mit einer Estin aus Talinn
Der Verantwortliche für Informationstechnologie der estnischen Regierung, Siim Sikkut, drückt es so aus:
Unser Credo: Wir suchen und entwickeln ständig neue digitale Lösungen, die es erlauben Dinge schneller, besser und günstiger zu erledigen. Estnische digitale Lösungen, sowohl auf Regierungsebene als auch darüber hinaus, sind auf einen praktischen Nutzen ausgerichtet – nicht nur auf einen Coolness-Faktor (obwohl sie auch cool sind).
Quelle: e-Estonia Guide (aus dem Englischen übersetzt)
Obwohl es auf dem Weg zur e-Governance in Estland auch Rückschläge gab und Fehler gemacht wurden, haben sich die Verantwortlichen nicht beirren lassen. Sondern sie haben daraus gelernt und teilen ihre Erfahrungen mittlerweile mit 60 Regierungen, die dem Beispiel der Digitalisierung in Estland folgen wollen.
Rahmenbedingungen
Neben dem reinen Willen zum Aufbau einer digitalen Gesellschaft bedarf es für die Umsetzung der e-Governance auch der entsprechenden Infrastruktur. So verfügen in Estland fast 90% der Haushalte über einen Breitband-Anschluss. Zwar versprach die deutsche Bundesregierung, dass bis Ende 2014 75% aller Haushalte mit mindestens 50 Mbit/s versorgt wären. Tatsächlich waren es dann aber nur ca. 66%.
Auch das 2015 aufgelegte Förderprogramm führte nicht zu einer entscheidenden Verbesserung. Denn bis 2018 sollten alle Haushalte über schnelles Internet verfügen. Jedoch gab es › im März 2019 erst ca. 32,5 Millionen Breitband-Anschlüsse. Wobei die meisten in Großstädten und Ballungsgebieten zur Verfügung stehen. In ländlichen Gebieten liegt die Rate gerade mal bei knapp 50%.
Hinsichtlich des Mobilfunknetzes sieht es nicht wesentlich besser aus. Bei einem › Vergleich aus dem Jahr 2018 von 27 Ländern (USA + EU-Staaten) belegte Estland mit einer LTE/4G-Netzabdeckung von fast 85% Platz 8, wogegen Deutschland nur knapp über 65% kommt und auf dem vorletzten Platz landete.
Entwicklung der e-Governance
Eines der ersten „e-Governance Projekte“ war 2000 das e-Tax board. Inzwischen erledigen in jedem Jahr 95% aller Steuerpflichtigen in Estland ihre Steuererklärungen elektronisch. Dagegen waren es 2018 in Deutschland nur 23,1 Millionen bei ca. 40 Millionen Steuerpflichtigen. Des weiteren werden 99% aller Finanztransaktionen elektronisch abgewickelt (Online-Banking). Außerdem war Estland 2005 weltweit der erste Staat, der elektronische Wahlen ermöglichte (i-Voting).
Im Vergleich dazu liegt der Anteil der Nutzer von Online-Banking in Deutschland nur bei 59%. Und elektronische Wahlen? Bereits 1998 empfahl eine Enquete-Kommission ein Internetwahlverfahren auf Bundesebene einzuführen. Anschließend löste ein Forschungsprojekt das andere ab bis sich von 2010 bis 2013 erneut eine Enquete-Kommission des Themas annahm und zu dem Schluss kam,
… dass freie, gleiche, geheime und überprüfbare – also verfassungskonforme – Internetwahlen in Deutschland noch nicht möglich seien. Die verfügbaren technischen Systeme würden den Anforderungen noch nicht genügen.
Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung
Seit dem gehen zwar die Diskussionen weiter, aber nach wie vor werden die Voraussetzungen für elektronische Wahlen als eher ungünstig beurteilt.
ID-card als Basis für e-Governance
Die Einführung der ID-card und der digitalen Signatur 2002 war ein weiterer bedeutender Schritt bei der Digitalisierung in Estland. Die nationale ID-card erlaubt einen sicheren digitalen Zugriff auf alle elektronischen Dienstleistungen. Darüber hinaus können sich alle Bürger Estlands per elektronischer Signatur über diese ID-card sicher identifizieren.
Zwar hat Deutschland im November 2009 ebenfalls den elektronischen Personalausweis eingeführt. Dieser könnte vergleichbar mit der estnischen ID-card als Generalschlüssel für alle Online-Dienstleistungen fungieren. Aber er hat bei der deutschen Bevölkerung keinen großen Anklang gefunden. Denn etwa drei Viertel haben die entsprechende Funktion nicht freigeschaltet und ignorieren die damit verbundenen Möglichkeiten.
Und obwohl einige Verwaltungen anbieten, Formulare elektronisch auszufüllen, endet die „Bequemlichkeit“ bei der Unterschrift. Um z. B. Anträge rechtsgültig einzureichen, müssen die ausgefüllten Formulare i. d. R. anschließend ausgedruckt, per Hand unterschrieben und per Post oder eingescannt als E-Mail-Anhang versendet werden.
Digitales Gesundheitssystem
Bereits 2010 führte Estland mit e-Prescription ein zentralisiertes, papierloses System zum Ausstellen und Verwalten medizinischer Verschreibungen ein. Auch hier benötigt ein Patient in der Apotheke lediglich seine ID-card, mit deren Hilfe der Apotheker die verschriebenen Medikamente dem System entnehmen kann. Deutschland startet mit einer vergleichbaren Möglichkeit 2023. Ob das System problemlos funktioniert, mehrheitlich genutzt wird und sich somit durchsetzen kann, bleibt abzuwarten.
Darüber hinaus hat in Estland jeder seinen Online-Gesundheitsbericht, auf den sowohl Patienten als auch Ärzte oder Krankenhäuser im Bedarfsfall Zugriff haben. Einer der Vorteile liegt darin, dass alle Bürger durch bessere Kenntnis mehr Verantwortung für ihre Gesundheit übernehmen können und wissen welche Faktoren diese beeinflussen.
Dagegen gibt es in Deutschland zwar seit Jahren die Gesundheitskarte der Krankenkassen, die mit einem Chip versehen ist. Diesen können jedoch nur Ärzte oder Krankenhäuser auslesen und er speichert nur allgemeine Informationen zur Person. Über eine Speicherung weiterer Daten, z. B. von Untersuchungsergebnissen, wird heftig diskutiert. Obwohl dies u. a. doppelte Untersuchungen vermeiden und einem anderen Arzt die Weiterbehandlung erleichtern würde, ist diesbezüglich eine Einigung nicht in Sicht.
Aufgrund der „Covid-19-Krise“ 2020 durften in Deutschland Ärzte Patienten „via Telefon“ krankschreiben. Diese Regelung wurde zunächst nach zwei Monaten wieder aufgehoben und später unter bestimmten Voraussetzungen wieder erlaubt. Zumindest soll das Austellen von elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen spätestens ab 2021 Standard werden. Inzwischen wurde aber auch hierbei wieder zurückgerudert.
So muss der Arbeitnehmer zwar seinen Arbeitgeber weiterhin über einen krankheitsbedingten Ausfall informieren. Aber der Arbeitgeber ruft dann die entsprechende Bescheinigung elektronisch bei der jeweiligen Krankenkasse ab, so dass die Zettelwirtschaft wegfällt. Allerdings sind (zunächst) Privatversicherte davon ausgeschlossen. Für sie gilt weiterhin die alte Praxis.
Ein neuer Vorstoß Deutchlands in Richtung „digitale Gesundsheits-Organisation“ ist das E-Rezept, das Ärte/Ärztinnen seit dem 01. Januar 2024 nutzen müssen. Dieses soll ess ermöglichen, ein Rezept entweder mit der Elektronischen Gesundheitskarte einzulössen oder es in einer E-Rezept-App auf dem Smartphone zu verwalten und von dort an eine Apotheke zu senden. Die erforderichen Zugangsdaten erhalten Versicherte bei ihrer Krankenkasse. Außerdem müsen sie für die Nutzung der App ein NFC-fähiges Smartphone und ihre Versicherten-PIN besitzen.
Die Möglichkeiten, die das E-Rezept bieten könnte, sollen weiter ausgebaut werden. Inwieweit und wann es sich „flächendeckend“ durchsetzen wird, bleibt abzuwarten.
Mobile-ID
Auf dem System der ID-card aufbauend gibt es in Estland seit 2007 die Mobile-ID. Seit dem können alle Esten ihr Smartphone wie die ID-card zur Identifizierung ihrer Person, für den Zugriff auf e-Dienstleistungen und zum digitalen Unterzeichnen von Dokumenten nutzen, ohne dass ein Lesegerät notwendig wäre.
Beispielsweise reicht in Estland zum Erwerb von Bus- und Straßenbahnfahrkarten der Anruf einer Telefonnummer. Anschließend überprüft der Kontrolleur nur die ID-card des Fahrgasts und sieht sofort, ob ein Ticket gekauft wurde. Außerdem ist es möglich, Parkgebühren direkt per Smartphone zu bezahlen.
In Deutschland gibt es erste Ansätze. So kann das Smartphone mit Fingerprint-, Face-ID, … im Rahmen der Zwei-Faktor-Authentifizierung ab 2019 z. B. bei Zahlungsdienstleistungen als ein Identifikationsmerkmal genutzt werden. Mehr aber auch nicht.
Obwohl Sie auch in Deutschland Fahrkarten per Smartphone kaufen können, funktioniert das System bisher eigentlich nur bei der Bahn. Denn viele Busse, Strassen- und U-Bahnen verfügen noch nicht über entsprechende Lesegeräte, die (auch auf Smartphones gespeicherte) digitale Fahrkarten beim Einstieg überprüfen können.
Und Bezahlen per Smartphone steckt noch in den Kinderschuhen. Während schon kontaktloses Bezahlen per EC-oder Kreditkarte noch lange nicht in allen Geschäften möglich ist, verbreitet sich das Bezahlen per Smartphone noch langsamer.
e-Governance – Sicherheit
Die größten Bedenken bei der Einführung von e-Governance gibt es hinsichtlich der Datensicherheit. Deshalb hat Estland folgende Prinzipien festgelegt, die sicherstellen sollen, dass das System funktioniert, zuverlässig und vor allem sicher ist:
- Dezentralisierung: Keine zentrale Datenbank, sondern eigene Systeme.
- Inter-Konnektivität: Alle Systeme arbeiten sicher und problemlos zusammen.
- Integrität: KSI Blockchain-Technologie für unabhängigen Datenaustausch und Datenspeicherung.
- Offene Plattform: Von allen nutzbare Infrastruktur, Open Source.
- Keine Altlasten: Kontinuierliche Verbesserung der Technologie und der gesetzlichen Grundlagen.
- Once-only: Alle Daten werden nur ein Mal gesammelt, keine Duplikate.
- Transparenz: Über Log-Dateien können alle Einwohner ihre persönlichen Informationen einsehen und deren Verwendung überprüfen.
Natürlich gibt es noch weit mehr Bereiche innerhalb der e-Governance. So z. B. e-School, eine Plattform, auf der Lehrer, Eltern und Schüler alle notwendigen Informationen organisieren können und die die Zusammenarbeit erleichtert.
Weitere Hindernisse für e-Governance
Schon diese wenigen Beispiele zeigen, wie groß der Unterschied zwischen Estland und Deutschland ist. Woran liegt das? Neben dem Datenschutz steht auch der Hang zur Individualität landesweiten Innovationen wie e-Governance im Weg.
Letzten Endes möchte doch jeder lieber sein eigenes Süppchen kochen. Das gilt für Privatpersonen genauso wie für Verwaltungen oder Großkonzerne. Beispielsweise kommt die Möglichkeit kontaktlos oder gar mobil zu bezahlen nur schleppend in Gang.
Obwohl es auch in Deutschland inzwischen „Bank-übergreifende“ Angebote wie Google Pay für Android- und Apple Pay für iOS-Smartphones gibt, möchte jede Bank doch lieber eine eigene Bezahl-App auf den Markt bringen und lehnt selbst eine Kooperation mit einem deutschen „neutralen“ System ab. Zum anderen spielen auch die meisten Geschäfte nicht mit. Bisher funktioniert dieser Service überwiegend nur bei große Ketten, aber nicht kleineren Händlern, Handwerkern und Dienstleistern.
Bereits seit 1975 ist bargeldlose Kartenzahlung möglich. Dennoch verweigern viele Geschäfte vor allem Zahlungen per Kreditkarte und somit auch die Zahlung per Smartphone, auf dem normalerweise nur eine Kreditkarte hinterlegt werden kann, bis heute. Auch die Verifizierung per PIN-Eingabe akzeptieren nicht alle, sondern verlangen eine Unterschrift. Dagegen ist in Estland Bezahlen per Smartphone üblich. Und beim Bezahlen mit einer EC-Karte, die noch nicht einmal über eine „Kontaktlos-Funktion“ verfügte, sah mich die Verkäuferin doch sehr misstrauisch an.
Darüber hinaus wird, wenn die Argumente gegen e-Governance langsam ausgehen, immer der Datenschutz bemüht. Dieser ist zweifelsohne wichtig. Deshalb sollte sich Deutschland endlich eigene Systeme aufbauen und nicht immer wieder nur versuchen, US-Programme „zu optimieren“.
e-Governance – Zusammenfassung
Einerseits scheitert e-Governance an der schon erwähnten lückenhaften Infrastruktur, deren Ausbau nur schleppend voran geht. Ein Beispiel aus der Praxis: Selbst in einem fast menschenleeren ländlichen Gebiet Estlands konnte ich im LTE-Netz Fotos versenden. Im Zug zwischen Düsseldorf und Duisburg scheiterte zeitweise schon das Aufrufen einer einfachen Webseite im Browser. Denn das „beste Netz Deutschlands“ lieferte nur E ohne LT davor. Bei anderen Anbietern und beim Breitband sieht es nicht viel besser bzw. noch schlechter aus.
Andererseits spielt wohl auch der offensichtlich recht einflussreiche konservative Teil der Bevölkerung Deutschlands eine Rolle. Oft gehörte Argumente sind
- Haben wir immer schon so gemacht, warum sollten wir das ändern
- Nur Bargeld ist das Wahre
- Bisher ging es auch gut ohne (mit langsamem) Internet
- Meine Daten irgendwo im Netz, ist doch alles unsicher
Sich ernsthaft mit dem Thema auseinandersetzen, um vielleicht Vorurteile zu begraben, Vorteile zu erkennen und den Umgang mit den digitalen Angeboten zu „lernen“, wollen viele nicht.
Fazit
Erst ein kleiner Virus namens COVID-19 samt Lockdown hat etwas Bewegung in das System gebracht. So langsam merken doch immer mehr Verantwortliche, dass ein gewisses Maß an Digitalisierung doch ganz hilfreich wäre und versuchen auf den bereits fahrenden Zug aufzuspringen. Doch wann die große Industrienation Deutschland tatsächlich den Sprung in die Realität des 21. Jahrhunderts schafft und z. B. e-Governance konsequent und mit einem angemessenen Datenschutz umsetzt, bleibt abzuwarten.
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